Interview mit Fernando Rendón anlässlich der Verleihung des Alternativen Nobelpreises 2006
Von Camilo Jiménez*
Das Internationale Festival der Poesie in Medellín (FIPM), Kolumbien, ist das größte und eins der renommiertesten Poesiefestivals der Welt. Als es 1991 vom Dichter Fernando Rendón gegründet wurde, war die weltberühmte Mafiastadt Medellín eine der gefährlichsten und gewalttätigsten Städte der Welt. Ein blutiger Krieg zwischen den von Drogenkartellen geförderten Paramilitärorganisationen und dem kolumbianischen Staat herrschte damals im Lande, und im Mittelpunkt der Kämpfe stand mit rund 60 Toten pro Tag Medellín als „Welthauptstadt der Gewalt“.
Es war in diesen Gewaltjahren, dass ca. 4000 Mitglieder der linksliberalen Unión Patriótica (UP, Patriotische Union) sowie schätzungsweise 2500 Gewerkschafter systematisch eliminiert wurden. Mitte der 80er Jahre hatte der kolumbianische Präsident Belisario Betancurt einen enormen Erfolg, als 1984 der Waffenstillstand von den Guerrillaorganisationen im Land unterzeichnet wurde. Die Friedenspolitik des Präsidenten stieß jedoch auf allen Seiten auf erbitterten Widerstand, wurde von Paramilitärs, Militärs und Politikern behindert und führte dann zu einer weiteren Eskalation des bewaffneten Konfliktes.
FOTOGRAFÍA REALIZADA POR http://www.festivaldepoesiademedellin.org
Die Krise erreichte ihren Höhepunkt, als 1985 die Guerillagruppe M-19 den Justizpalast in Bogotá besetzte. Die darauf folgende blutige Stürmung durch Militärs hinterließ Hunderte von Toten, den niedergebrannten Palast und eine äußerst kritische politische Lage, in der die Bevölkerung Kolumbiens Opfer von Angst und Gewalt wurde. 4 Jahre folgten, in denen jedwede Friedensbemühung im Land scheiterte. Es waren aber vier Jahre, in denen die Regierungskritiker, die sich noch nicht den Guerillaorganisationen im Urwald anschließen und zu den Waffen greifen wollten, zunächst immer noch die Patriotische Union als einzige politische Bühne der Opposition hatten. Die 1989 ausgerichtete Massaker an den Mitgliedern der linken Patriotischen Union verstärkte jedoch das allgemeine Klima des Misstrauens und vertiefte den gewalttätigen Konflikt in Kolumbien in einem bis dahin nicht gekannten Maß.
Es war in dieser Zeit, dass die Dichter Fernando Rendón und Ángela García die Idee hatten, ein Poesiefestival zu gründen, das in Medellín stattfinden und die Dichtung als „Waffe gegen den Terror“ verwenden sollte. 13 Mitglieder des renommierten Literaturmagazins Prometeo, dessen Herausgeber Rendón und García waren, sammelten ihre Kräfte zusammen und veranstalteten 1991 das Poesiefestival. Das FIPM gilt bis heute als Protestakt gegen die politische Gewalt in Kolumbien. Die Verwendung der Dichtung als Waffe gegen den Terror ist bis heute die Grundidee des Festivals geblieben.
Über achtzig Dichter aus 55 Ländern nehmen jährlich am Festival teil, dessen 17. Ausgabe im Juli 2007 mit der Teilnahme von namhaften Belletristen wie Hans Magnus Enzensberger, Breyten Breytenbach und Elke Erbe stattfindet. Das Festival ist das größte Poesiefestival der Welt und ein außerordentliches Ereignis: Auf den gefährlichen Straßen Medellíns, in Parks, Wohnvierteln, Theatern, Universitäten, Schulen und Bibliotheken tragen die Dichter zehn Tage lang ihre Werke in mehr als 60 Sprachen und Dialekten vor. Rund 200 000 Besucher in 33 kolumbianischen Städten und Dörfern hören die rund 900 öffentlichen Lesungen.
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Der Alternative Nobelpreis
„Das FIPM hat bewiesen, dass die Kreativität, die Schönheit, die freie Meinung und die Gesellschaft gegenüber einer Lage der tief greifenden Angst und Gewalt zusammen gedeihen und diese Lage überwinden können“, so die Erklärung der Stiftung Right Lifelihood Award, die Fernando Rendón und den Organisatoren des FIPM den Alternativen Nobelpreis 2006 am 8. Dezember verlieh. Der 1980 gestiftete Alternative Nobelpreis (der nur in Deutschland als solchen bekannt ist und offiziell Right Lifelihood Award genannt wird) wird jährlich an 3 oder 4 Preisträger verliehen. Der Preis wurde von einer Gruppe Intellektueller und Politiker in Schweden ins Leben gerufen, als der Vorstand der Nobelstiftung den Vorschlag des ehemaligen Mitglieds des Europäischen Parlaments Jakob Uexküll ablehnte, einen Nobelpreis für Ökologie und Entwicklung zu vergeben. Daher ehrt der Alternative Nobelpreis Menschen oder Organisationen, die „Lösungen zu den dringendsten Problemen unserer Zeit finden und umsetzen.“ Aus diesem Grund ist der Preis nicht in strengen Kategorien geordnet. Seit 20 Jahren bekommen den Alternativen Nobelpreis Umweltschützer, Friedensaktivisten, Menschenrechtskämpfer sowie prominente Menschen aus den Bereichen Entwicklung, Kultur, Verbraucherschutz, Bildung, Gesundheit, Energie und Ressourcenschonung.
Ende November 2006 befand sich Fernando Rendón, Direktor des FIPM, in Berlin. Er war auf dem Weg nach Stockholm, wo er am 8. Dezember den Alternativen Nobelpreis bekam. Im Interview spricht Rendón über die Schwierigkeiten, heutzutage das Festival in seinem Heimatland zu veranstalten, und über das schreckliche Fortschreiten der Kultur des Todes in Kolumbien.
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Fernando Rendón im Gespräch
Wie haben Sie nach 14 Jahren des unerbittlichen Kampfes für das Überleben des Internationalen Festivals der Poesie in Medellín (FIPM) die Ankündigung aufgenommen, dass Ihnen der Alternative Nobelpreis verliehen wird?
Wir erhalten diese Auszeichnung als Anerkennung der weltweiten Einzigartigkeit des FIPM. Wir waren mit einer krassen Situation des Terrors und der Gewalt konfrontiert und haben teilweise zu ihrer Überwindung beigetragen. Ich sage teilweise, weil die paramilitärischen Gruppen Kolumbiens weiterhin viele Zonen Medellíns beherrschen. In der Begründung des Alternativen Nobelpreiskomitees heißt es, „die Verleihung dieses Preises ehrt den Mut und die Hoffnung in Momenten der Verzweiflung.“ Ich sehe das genauso und freue mich sehr, dass unsere jahrelangen Bemühungen nun belohnt werden. Wir möchten diesen Preis den jungen Menschen in Kolumbien widmen, da sie die eigentlichen Kämpf er für den Frieden sind.
Und was wird aus den 200 000 Euro, mit denen der Preis dotiert ist?
Wir befinden uns seit vielen Jahren in einer defizitären Situation. Vor kurzer Zeit verlangte der kolumbianische Staat eine Steuernachzahlung in Höhe von ca. 30 000 Euro von uns. Wir haben also Verwendung für einen guten Teil des Preisgeldes. Darüber hinaus wollen wir auch das Festival finanziell stärken, denn dies ist der einzige Weg, uns Kredite zu verschaffen und unser Poesie-Projekt auch in schwierigeren Zeiten erhalten zu können.
Das FIPM ist das größte Poesiefestival der Welt. Wie kam es zu seiner Gründung und wie erreichte es solche Anerkennung?
Ich war immer der Meinung, dass die Poesie ein außergewöhnliches Gut ist, zu dem jeder Mensch Zugang haben sollte. In Zeiten, in denen das kollektive Leben eine sekundäre Rolle in der Gesellschaft spielt, bleiben den meisten Menschen ihre Gemeingüter verwehrt. Ich wollte nicht, dass dasselbe für das Gemeingut Poesie passiert. Poesie ist in meinen Augen ein Erbe der Menschheit. Und 1991, nach dem Genozid an der Unión Patriótica in Kolumbien und mitten im Krieg zwischen dem Medellínkartell und dem kolumbianischen Staat, also in einer Epoche, in der die Bürger Medellíns den Terror dieses Krieges am eigenen Leib erfahren mussten, entschied ich mich, diesem Terror die Poesie entgegenzusetzen. Meine Absicht war es, ein Projekt aufzubauen, mit dem ich die Poesie nach und nach in alle Bereiche der Gesellschaft einführen könnte – und zwar für den Frieden.
Um sich am Leben zu halten, musste das FIPM seit seiner Entstehung große Hindernisse überwinden, die oft sogar von staatlichen kolumbianischen Institutionen ausgingen. Inwiefern wird sich diese Situation nach der Verleihung des Alternativen Nobelpreises Ihrer Meinung nach ändern?
Wir haben immer große Probleme gehabt vorwärts zu kommen. 2003 unterrichteten uns die Paramilitärs, dass sie uns mit Kugeln durchsieben würden, sollten wir in Kolumbien das Erste Weltgipfeltreffen der Poesie für den Frieden veranstalten. Die Person, die uns diese Drohung mitteilte, war niemand Geringeres als ein Funktionär des Präsidialamtes der kolumbianischen Republik. Derselbe Funktionär – was für ein Zufall! – legte uns einige Tage später nahe, dass auch das Präsidialamt der Planung dieser Veranstaltung nicht gerade wohlwollend zusehe, da das FIPM schon genügend politisch ausgerichtet sei – was eine Lüge ist. Das FIPM hatte nie die Absicht, den kolumbianischen Staat zu verärgern, sondern hat im Gegenteil immer versucht, Brücken zu schlagen zwischen dem Staat und den verschiedenen Sektoren, die einen Rahmen für den politischen Dialog in Kolumbien schaffen wollen. Auf der anderen Seite hat es auch Hindernisse auf finanzieller Ebene gegeben: Praktisch alle Bürgermeister Medellíns, außer dem jetzigen, strichen während ihrer jeweiligen Amtszeit jegliche Zuschüsse für das Festival. Ebenso haben wir Widerstand durch die Medien erfahren. Anfangs begeisterten sie sich für die Entstehung des FIPM, aber als sie begriffen, dass unsere Organisation nicht manipulierbar war, ließ die Berichterstattung nach. Angesichts dieser Situation machen wir heute sämtliche Öffentlichkeitsarbeit alleine. Dazu kommt, dass El Mundo, eine renommierte Zeitung Medellíns, vom Staat einmal verlangte, unsere Förderung komplett einzustellen. Mir scheint, dass all das über die politischen Absichten der Medien in Kolumbien hinaus auch eine Konsequenz des mangelnden Wissens um die Natur der Poesie vieler Kulturjournalisten im Lande ist.
Und welches Verständnis haben die Organisatoren des FIPM von der Natur der Poesie?
Im Unterschied zu den Kulturredakteuren Kolumbiens verstehen wir die Poesie – und das wird jeden Tag nötiger – als eine Form der Erkenntnis, der Interpretation und der Transformation der Realität.
In einem von Ihnen veröffentlichten Kommentar zur Preisverleihung schreiben Sie: „Die Auszeichnung ist eine Anerkennung der historischen Rolle der Poesie und des Geistes im Widerstand zur Kultur des Todes.“ Was meinen Sie mit der „Kultur des Todes“?
Die Kultur des Todes ist die Kultur des Krieges, die der kolumbianische Staat offen fördert. Diese Kultur kommt zum Vorschein, wenn die paramilitärischen Organisationen Kolumbiens erklären, dass 60% des Senats in ihren Händen ist, und dies niemand im Land dementiert. Diese Kultur spiegelt sich in der Tatsache wider, dass im Laufe der letzten Monate immer mehr Mitglieder des kolumbianischen Kongresses sich in Strafprozessen wieder finden. Sie drückt sich auch aus in Fällen wie dem des Senators Álvaro Araújo, der kürzlich verkündete, sollte er aufgrund vermeintlicher Verbindungen zu den Paramilitärs in einen Prozess verwickelt werden, so würde er bedauerlicherweise aus ähnlichen Gründen auch seine Schwester denunzieren müssen (die niemand Geringeres ist als die Außenministerin) und seinen Ex-Schwager (der niemand Geringeres ist als der Vorsitzende Richter des Obersten Gerichtshofs) sowie einen weiteren Verwandten (der Richter am Verfassungsgericht ist) und sogar den Präsidenten der Republik, Álvaro Uribe. Auf diese Art herrscht in Kolumbien eine Kultur des Todes, die Gewalt, Terror und Krieg rechtfertigt und die zur weltweit höchsten Rate an ermordeten Gewerkschaftern, zur höchsten Anzahl ermordeter Journalisten der westlichen Hemisphäre in den letzten dreißig Jahren und zu zahllosen Vertreibungen in Lateinamerika geführt hat. Zu Letzteren gehören vier Millionen Menschen und ihre Enteignung von mehr als fünf Millionen Hektar Land.
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Wie schätzen Sie die aktuelle Beziehung der kolumbianischen Regierung zur Kultur ein?
Vor wenigen Jahren wurde das kolumbianische Kulturministerium mit einer langen bürokratischen Namensliste und einem dermaßen geringen Budget gegründet, dass vermutlich sogar das Kulturbudget der Stadt Medellín mit einer Höhe von 10 Millionen Euro mehr als doppelt so hoch ist – ich bezweifle, dass das Budget des Kulturministeriums auch nur fünf Millionen Euro beträgt. Auf eine höchst elitäre Art nimmt der kolumbianische Kulturminister nur ausgesuchte kulturelle Events unter seine Fittiche, wie zum Beispiel das Iberoamerikanische Theaterfestival in Bogotá. Es wird vom Ministerium mit mehr als 600 000 Euro unterstützt, findet allerdings nur in Bogotá statt und bleibt somit den Bogotanern vorbehalten. Währenddessen erhielt das FIPM, das bereits 35 kolumbianische Städte erreicht hat, im letzten Jahr nur 20 000 Euro, wovon uns die Hälfte erst vor zehn Tagen überwiesen wurde. Ich denke, wenn die Regierung aufhört, der Kultur weiter Steuerzwänge aufzuerlegen, und einen Teil ihres Kriegsbudgets auf die Kultur umverteilt, könnte sie zur Stärkung des Kultursektors beitragen und so mithelfen, das Ende der Barbarei im Land herbeizuführen.
Und wer vertritt unter diesen Bedingungen den Kultursektor in Kolumbien?
Zurzeit befinden sich die Freunde der Kultur in Kolumbien auf der Seite der Opposition. Die Mehrheit der kolumbianischen Intellektuellen, und die der Dichter, befürworteten die Präsidentschaftsambitionen des Mitte-Links-Kandidaten Carlos Gaviria in den vergangenen Wahlen. Wir werden dies fortsetzen und der Mitte-Links-Partei Polo Democrático Alternativo im Kommunal- und Landeswahlkampf 2008 helfen. Bei den Präsidentschaftswahlen 2010 erwarten wir einen Sieg mit Carlos Gaviria an der Spitze, der alle Dimensionen des Lebens in unserem Land erneuern wird.
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Was hat Ihnen und dem FIPM der Besuch in Berlin gebracht?
Die Sicherheit, dass das Festival fortbestehen und sogar an Stärke gewinnen wird. Im Gespräch mit dem Bundestagsvizepräsidenten, Wolfgang Thierse, und anderen Abgeordneten gab es großes Interesse seitens verschiedener deutscher Politiker, im nächsten Jahr eine Gruppe von Parlamentariern nach Kolumbien zu entsenden und dem Festival den Rücken zu stärken. Auf einem Treffen mit mehr als vierzig Vertretern von Zusammenarbeitsorganisationen und Kulturministerien aus Afrika, Asien, Europa und Lateinamerika wurde mir gesagt, dass die Unterstützung für das Festival angesichts der derzeitigen Situation in Kolumbien so wichtig ist wie nie zuvor. Aus Deutschland nehme ich außerdem die Gewissheit mit nach Kolumbien, dass, auch wenn der kolumbianische Staat weiterhin die Unterstützung verweigert, große europäische Nationen fest davon überzeugt sind, dass das Festival eine wichtige friedensstiftende Rolle für Kolumbien spielt.
Herr Rendón, vielen Dank für das Gespräch.
* Dieses Interview erschien zum ersten Mal im europäischen Online-Magazin „AVINUS Magazin“ (www.avinus-magazin.eu).
** Das Interview wurde von Britta Astrid Verlinden aus dem Spanischen übersetzt.
*** Camilo Jiménez, geb. 1981, ist ein Journalist aus Kolumbien. Er wohnt seit 2000 in Berlin und schließt zur Zeit ein Aufbaustudium im Philosophie und Geschichte ab. Er ist Deutschlandkorrespondent der kolumbianischen Tageszeitung El País und Redaktionsleiter des AVINUS-Magazins. Zahlreiche deutsch- und spanischsprachige Printmedien haben seine journalistischen Beiträge und Übersetzungen während der letzten drei Jahre publiziert.
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